Von der Wichtigkeit realer Orte in der Bildungsarbeit

Als ehemaliger Leiter eines Bildungshauses und Lehrbeauftragter in der Erwachsenenbildung sieht sich Dr. Joachim Gruber zunehmend mit der Frage nach der Existenzberechtigung von real existierenden – also nicht digital/virtuellen – Bildungseinrichtungen konfrontiert. Wären rein digitale Wege der Informations- und Wissensvermittlung, ja der Bildungsvermittlung insgesamt, nicht viel effizienter und effektiver? Und zudem auch noch sehr viel kostensparender?

An deutschen Universitäten, Fachhochschulen und anderen, privaten Bildungsanbietern wie z.B. großen Verlagshäusern,  boomen derzeit die Angebote digitaler und virtueller Kurse, Workshops und Lehrgänge. Die Studierenden ersparen sich bei diesen (durchaus oft sehr kostenintensiven!) Bildungsangeboten u.a. die immer teurer werdenden Wohnräume und Lebenshaltungskosten in den Städten. Reale Lernorte sind jedoch nicht nur als Räume mit Ausdehnung und Begrenzung zu verstehen sondern auch traditionell gewachsene Inbegriffe einer lokalen Verortung von individuellen Bildungs- und Erfahrungsprozessen. Also Kindergärten, Schulen, Universitäten und Einrichtungen der Erwachsenenbildung im weitesten Sinn, wie zum Beispiel auch die meisten Vereine mit ihren dazugehörigen Vereinshäusern oder anderen fixen Treffpunkten. Man könnte nun einwenden, dass solche Orte in Zeiten einer globalen Vernetzung, die jederzeit und individuell in Sekundenbruchteilen mittels Internet hergestellt werden kann, einen großen Anachronismus darstellen. Groß waren schließlich auch die Erwartungen und Hoffnungen, die man seit etwa zwanzig Jahren und jüngst in Zeiten der Covid19 Pandemie an die Möglichkeit der Ortlosigkeit des Internet zur erfolgreichen Darbietung und Umsetzung von Lern- und Bildungsprozessen setzte. Distance- und E-Learning sind seitdem im Bildungsgeschäft die unbestrittenen Zauberworte und Hoffnungsträger zukünftigen Vermittelns und Lernens. Mittels digital jederzeit und überall verfügbaren Zugängen und Lernprogrammen, so meinen viele, könnten Orte und Verortungen des Lernens und der Bildung schon in naher Zukunft überhaupt überflüssig werden. Werden sich diese Erwartungen erfüllen? Wie es derzeit aussieht, in absehbarer Zeit wohl kaum. Ebenso wenig wie die Realisierung des papierlosen Büros, dessen zutiefst überzeugten Protagonisten wir Anfang der 1980er Jahren mit ungläubigem Staunen gelauscht und ihren Verheißungen natürlich kritiklos geglaubt haben. Und wiesen die zahlreichen poststrukturalistischen Theorien der Entortung von Information und Partizipation zur Demokratisierung der Gesellschaften erfolgversprechende Wege in die Zukunft? Nein, sie scheinen sich eben gerade nicht nachhaltig zu bewahrheiten. Wie man an zahlreichen Beispielen in den zurückliegenden Jahren sehen konnte, scheitern über einige Monate machtvoll erscheinende Protestbewegungen wesentlich und letztendlich an der fehlenden realen Möglichkeit der räumlichen Verortung ihrer Anhängerschaft sowie ihrer Anliegen und Forderungen. Sie scheitern letztendlich an der zum Teil als besondere Errungenschaft und Strategie propagierten Ortlosigkeit, in die sie allzu viel Vertrauen und Glauben setzen und letztendlich allzu wenig Organisationskraft, Kontinuität und Durchhaltevermögen daraus schöpfen können.

Bedarf es also in einer Zeit einer allseits propagierten und eingeforderten totalen Flexibilität und global ausgerichteten Mobilität, die in ihrem Kern letztendlich nichts anderes als fremdbestimmte Prozesse der Entortung und Entgrenzung darstellen, noch der feststehenden traditionellen Lern- und Bildungsorte mit all ihren Strukturen und Regeln für eine möglichst angstfreie und produktive soziale Begegnung von Menschen? Orte also, an denen man eine bestimmte Zeit lang in Gemeinschaft und in direktem Kontakt mit anderen verweilen kann? Ich meine, ja. Schulen, Universitäten, Bildungshäuser und Vereinshäuser sind solche Orte, auch wenn ihnen zuweilen der Ruf des Altmodischen, des Traditionellen, ja des Unmodernen, anhaftet. Aber gerade in einer Zeit fundamentaler gesellschaftlicher Umbrüche und rasanter Veränderungen der Informationssysteme erscheinen mir solche Rastplätze der Reflexion und der Lebensgestaltung wichtiger denn je zu sein. In allen mir bekannten Bildungseinrichtungen geht es nie allein nur um die Erweiterung des bedarfsorientierten Verfügungswissens, also nur um Bildung zur Brauchbarkeit. Sie sind sich allesamt vielmehr auch ihrer gesellschaftlichen Orientierungsverantwortung bewusst um die Bedingungen für ein friedensfähiges und demokratisches Gemeinwesen zu verbessern.

Viele Bildungseinrichtungen eignen sich besonders gut, Ruheorte der kurz angehaltenen Zeit zu sein und der Besinnung darüber, was der rasante Fortschritt so alles liegen gelassen hat. Vieles davon würde sich sehr lohnen, aufzulesen und zu Ende zu bringen, bevor mit Neuem begonnen wird. Der renommierte deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf, selbst lange Zeit ein maßgeblicher Vertreter eines neoliberalen Beschleunigungskurses der Geschichte, zeigte sich wenige Jahre vor seinem Tod erschrocken über dessen Auswirkungen. Er sprach in diesem Zusammenhang von der Ortlosigkeit des Menschen. Blicken wir abschließend noch einmal über den Tellerrand der Bildungsdiskussion: Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren so viele Menschen von Flucht und Vertreibung betroffen wie derzeit. Und Ortlosigkeit bezeichnet zweifellos auch das ganz besondere Elend der Flüchtlinge, mit dem wir es gegenwärtig zu tun haben. Keine Möglichkeit zu einer dauerhaften Verortung zu haben, so meine feste Überzeugung, schadet dem Menschen auf physischer und psychischer Ebene massiv und verletzt zudem seine menschliche Würde. Ortlosigkeit zu bekämpfen, bedarf der festen Orte. Bildungseinrichtungen können solche Orientierungsorte sein und damit nach wie vor verlässliche Rastplätze der Reflexion und der Lebensgestaltung.

Dr. Joachim Gruber ist ehemaliger Direktor des Bildungshauses Schloss Retzhof und Lektor an der Universität Graz zum Thema Management von Bildungsprozessen und Bildungsorganisationen.

 


Bildungshaus Retzhof: Die Montagsakademie kommt nach Wagna

Bildung für alle durch allgemein verständliche Vorträge aus der Welt der Wissenschaft lautet die Devise der sogenannten "Montagsakademie der Uni Graz". Jeweils montags um 19 Uhr werden von unterschiedlichen Wissenschaftern öffentlich und kostenlos zugängliche Vorträge zum Leitthema 'Mensch – Natur – Gesellschaft: Beziehungen im Wandel‘ an der Uni Graz gehalten. Für das WS 2023/24 und SS 2024 überträgt das Bildungshaus Retzhof die 12 Vorträge live, mit der Möglichkeit an der anschließenden Diskussion teilzunehmen.

Die Themen der 12 Vorträge und weitere Infos: www.retzhof.at/bildungshaus/bildungsangebot.
Anmeldung unter office@retzhof.at.