Vom Diesseits, Jenseits und verschwundenen Hügeln

Wir können uns heute kaum mehr ein Bild von der Landschaft um Wagna und Leibnitz in römischer Zeit machen. Im Jahr 1848, als Erzherzog Johann die Steiermark reformierte, beschreibt Richard Knabl diese Gegend als Ackerland, in dem einerseits zahlreiche Hügel, römerzeitliche Gräber, und andererseits viele alte Mauern der Stadt Flavia Solva als Geländedenkmale sichtbar waren. Wo sind alle diese Spuren geblieben? Und was bedeuteten diese Monumente für die Menschen, die vor 2.000 Jahren hier lebten?

Flavia Solva hat ein – wollen wir es mit einem modernen Ausdruck benennen – Alleinstellungsmerkmal unter den römischen Städten, und zwar seine Friedhöfe (Nekropolen). Die bewohnte Fläche der Stadt betrug etwa 34,5 ha, jene der Nekropolen jedoch mindestens 36 ha. Stellen Sie sich vor, die Friedöfe in Wagna/Leibnitz würden heute eine größere Ausdehnung als die Siedlungen haben! Doch das ist noch nicht alles, denn Solva besaß das größte bekannte Hügelgräberfeld der römischen Provinzen. Über 700 Grabhügel wurden zwischen der Sulm in Altenmarkt, der Marburgerstraße im Norden und dem antiken Stadtgebiet im Osten errichtet. Die überwiegende Zahl davon befindet sich in der Nähe zur Sulm und zum Frauenberg.

Wie kam es dazu? Im Bereich der ehemaligen Kaserne sieht man heute noch einen großen Hügel, den kleinen Gollikogel, mit etwa 40 m Durchmesser. Hierbei handelt es sich aber um ein Grabmonument aus der Hallstattzeit, das um gut 500 Jahre älter ist als die Grabhügel der Römerzeit. Die überwiegend keltischen Bewohner von Solva wählten jedoch diese alten, sichtbaren Hügel –  das Monument einer Vergangenheit, die nicht ihre eigene war – als ihr neues, Identität stiftendes Symbol. Man tat dies einerseits, um sich von den übrigen keltischen Stämmen der Provinz Noricum zu unterscheiden und andererseits auch, um den italischen Zuwanderern eine eigene kulturelle Identität entgegenzusetzen.

Wir alle wissen, wie sehr sich Ethnien und Kulturen durch ihre Architekur, Gebräuche, Religion, Speisen oder Tracht unterscheiden. Gerade in Zeiten einer globalen Migration erleben wir Ähnliches wie im römschen Reich: ethnische Gruppen unterstreichen ihre Identität durch die Ausübung der Religion in unterschiedlichen Gebäuden (Kirchen, Moscheen), Pflege der Tracht (Dirndl, Kopftuch) oder die Speisegewohnheiten (Schnitzel, Kebap). Genauso kann man sich die Integration (oder besser Nicht-Integration) der keltischen Bevölkerung in das römische Reich vorstellen. Es gab ein buntes Nebeneinander von keltischen und römischen Tempeln (Frauenberg: Umgangstempel - Podiumstempel), keltischer und römischer Tracht (Modiusmütze, Sagum - Toga) und eben die Mehrzahl an „typisch“ keltisch-traditionellen Grabhügeln und daneben die wenigen italischen Grabbauten. Bis in das 3./4. Jahrhundert nach Christus hielt man an den keltischen Speisegewohnheiten fest, wie anhand der großen Zahl an traditionellen Dreifußschüsseln und nur wenigen Amphoren oder italischen Tellern zu erkennen ist. Die eigentlichen Kulturträgerinnen waren die Frauen. Das Jenseits hatte für die lokale Bevölkerung eine immens große Bedeutung, was sich sowohl in den oft monumentalen Grabhügeln, als auch in den Grabbeigaben äußerte. Man bestattete die Toten zumeist mit Trink- und Essgeschirr sowie Bratspießen für das ewige Festmahl.

Wohin sind nun alle diese Grabhügel, die Symbole der einheimischen keltischen Bevölkerung, verschwunden? Ein Großteil wurde bereits 1851 eingeebnet, als im Zuge der Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeit das Gebiet um Wagna landwirtschaftlich intensiv genutzt wurde. Viele Hügel fielen in der Folge Grabräubern und vor allem Bautätigkeiten zum Opfer. Heute kann man diesen „Wald“ an Grabhügeln, der Leibnitz mit Wagna verband, lediglich in einem 3D-Modell visualisieren (großes Bild).

Der moderne „Wald an Monumenten“ könnte am ehesten nur mehr als Aneinanderreihung von Einfamilienhäusern beschrieben werden. So ändern sich die Schwerpunkte des Denkens und Lebens seit der Römerzeit: Damals die große Bedeutung des Lebens nach dem Tode, das Jenseits, dem mehr Monumente (Gräber, Grabhügel) als zum Wohnen errichtet wurden, heute das Streben nach Individualität und Freiraum des Einzelnen im Diesseits und die Verdrängung des Todes in kleine ummauerte Friedhofsareale.

 

Von Dr. Stefan Groh