Das Bildungshaus Retzhof lädt zur gemeinsamen Grenzlandwanderung

Wussten Sie, dass gemäß der Volkszählung von 1910 in der Steiermark 68,1 Prozent deutschsprachige und 28,4 Prozent slowenischsprachige Staatsbürger lebten? 1880 hatte der Anteil der slowenischsprachigen Bevölkerung in der Steiermark noch 32,7 Prozent betragen. Dies änderte sich nach der militärischen Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg dramatisch.

Auch in der Steiermark führte die Frage nach den Grenzlinien zwischen den deutsch- und slowenischsprachigen Gebieten zu Gebietsforderungen der jeweils anderen Seite und zu militärischen Aktionen. Marburg, die zweitgrößte Stadt des damaligen Kronlandes mit seinen 28.000 Einwohnern und sein Umland wurden sogar schon während der Endphase des Krieges am 1. November 1918, also noch vor dem Waffenstillstand, von slowenischen Einheiten unter Anführung des Kommandanten Rudolf Maister besetzt. Wie uns die Geschichte gezeigt hat, kam es in der Steiermark, wenn auch von gewaltsamen Zusammenstößen begleitet, in der Folge zu relativ raschen Lösungen bei der neuen Grenzziehung in den gemischtsprachigen Gebieten. Heute ist der Grenzverlauf entlang der südsteirischen Weinstraße, seit 30 Jahren zwischen Österreich und Slowenien, von vielen Standpunkten aus gesehen eine „historische Sehenswürdigkeit“: Streckenweise wird die Staatsgrenze durch die Mittelmarkierung der Straße definiert. Ein slowenischer Anwalt blockierte monatelang eine Straßenseite mit Betonquadern, da er diesen Teil des Landes als seinen Privatbesitz betrachtete. Der „alte“ Grenzübergang an der Bundesstraße in Spielfeld ähnelt heute einer Geisterstadt, in der die Zeit der 60er Jahre konserviert zu sein scheint. Im Jahr 2015 brachte es dieser Grenzübergang kurzfristig als „Fluchtrouten-Hotspot“ zu weltweiter medialer Bekanntheit. Ein steirischer Kulturpolitiker verweigerte damals das Ziehen eines Grenzzaunes auf seinem Grundstück, sodass das „Loch im Zaun“ von österreichischen Grenzsoldaten bewacht wurde. Das südsteirische Weinland mit seiner Grenze ist also reich an Orten, Ereignissen und Kuriositäten, die das Leben der Menschen zu Zeiten des Eisernen Vorhangs und auch in der Zeit danach begleitet und geprägt haben.

Wir wollen Sie daher auch in diesem Herbst wieder zu einer grenzüberschreitenden Wanderung von Menschen aus „Hüben und Drüben“ entlang der südsteirischen Weinstraße einladen. Im Rahmen einer geführten mehrstündigen Wanderung soll an markante
Ereignisse erinnert werden. Letztendlich soll der Frage nachgegangen werden, was sich in diesen Jahren alles verändert hat? Welche Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen haben sich auf beiden Seiten der Grenze erfüllt und welche nicht? Welche Perspektiven scheinen erstrebenswert und realistisch zu sein? Wie steht es heute um den europäischen Einheitsgedanken in dieser Region?

Die Wanderung wird von Fachleuten, von diesseits und jenseits der Grenze kommend, begleitet. Die tragende Rolle der Veranstaltung spielen allerdings die Menschen, die sich an der Wanderung beteiligen und diese mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen gerne bereichern können. Die Retzhofer Grenzlandwanderung soll ein fröhlich-freundschaftliches und verbindendes Vernetzungstreffen von Menschen und Organisationen aus der Region, dies- und jenseits der Grenze, sein.

 

Zum Autor: Dr. Joachim Gruber ist pädagogischer Leiter des Bildungshauses Retzhof und Lektor an der Karl-Franzens-Universität Graz zum Fachbereich Management in Bildungsorganisationen.

 


 

Retzhofer Grenzlandwanderung

Samstag, 9. Oktober 2021, von 10 bis 14 Uhr

Anmeldung unter office@retzhof.at.

Die Teilnahme ist kostenlos (außer Konsumation Buschenschank).