Die Bildungsgeschichte des Retzhof: Eine institutionelle Spurensuche

Sich Wissen und Kenntnisse über die gesellschaftliche und individuelle Vergangenheit seiner Lebensumwelt zu erwerben, zählt der deutsche Soziologe und Sozialphilosoph Oskar Negt zu den wichtigen Kompetenzen eines jeden Menschen.

Historische Kompetenz, so nennt er es, benötigt man in einer demokratischen Gesellschaft unbedingt, um sich in der Gegenwart orientieren, um aus der Vergangenheit Lehren und Schlüsse ziehen und um die eigene Zukunft einigermaßen selbstbestimmt planen und gestalten zu können. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte dient aber letztendlich auch dazu, sich selbst zu finden. Nur so kann sich ein Bewusstsein über die eigene Identität und damit eine weitere wichtige Kompetenz des Menschen, die Identitätskompetenz, entwickeln und herausbilden. Soweit einige Gedanken zur individuellen Entwicklungsgeschichte eines jeden Menschen aus der Sicht des Soziologen. Als langjähriger Freund und Mentor des Retzhof wies Negt in zahlreichen Diskussionen aber auch darauf hin, dass ebenso Organisationen und Institutionen, wie zum Beispiel das Bildungshaus Retzhof, solche Kompetenzen erlangen kann und soll. „Davon bin ich zutiefst überzeugt“, so Negt, „dass eine Institution, die nicht ihre eigene Geschichte aufgearbeitet hat, langfristig auch an Überzeugungskraft verliert“. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch Einrichtungen, ähnlich wie Menschen, Gedächtnislücken aufweisen können. Viele Dinge und Geschichten wurden von den Zeitgenossen oft als unwichtig erachtet, werden oft lange Zeit vergessen oder auch verschwiegen. Manchmal findet sich beim Aufräumen eines Dachbodens oder Archivs zufällig etwas, was das bisher Geglaubte und Überlieferte in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt. Für die Nutzung des Retzhofs in der Zeit während des Nationalsozialismus fand man über Jahrzehnte lediglich die Angaben, dass das Schloss „für staatliche Schulungszwecke“ verwendet worden wäre. Gewisse Erzählinhalte über die (Bildungs-)Geschichte des Hauses wurden in den darauffolgenden Jahren schriftlich oder mündlich hervorgehoben oder weggelassen. Ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt lässt sich heute kaum noch klären. Als erster offizieller Meilenstein in der institutionellen Geschichte des Hauses wurde jedenfalls das Jahr 1948 genannt und in der Festschrift zum 40-Jahr-Jubiläum publiziert. DI Oskar Dlabik wurde in diesem Jahr als erster Direktor mit der Führung eines Volksbildungsheims für die gewerbliche und kaufmännische Jugend beauftragt. Seit kurzem liegt eine Retzhof-Schrift in 2. Auflage vor, die auf die Bildungsgeschichte des Hauses im 20. Jhdt. blickt. Manch bislang Vergessenes, Verdrängtes oder Unerwähntes wird dabei ans Tageslicht gebracht. Auch die Jahre vor, während und nach dem Nationalsozialismus – vor allem in Bezug auf die Familie des k.u.k. Rittmeisters Robert Knapp, den damaligen privaten Besitzern des Schlosses bis 1957 – dürften nach wie vor von regionalem historischen Interesse sein. Die Region Südsteiermark ist reich an wunderschönen Landschaften, hervorragender Kulinarik und freundlichen Menschen. Aber auch an Erzählungen von Menschen und Institutionen, die wir für die zahlreichen interessierten Besucherinnen und Besuchern der Region bewahren, interessant und spannend aufbereiten und keinesfalls dem Vergessen anheimfallen lassen sollten.

 

Lesetipp: Lisbeth Matzer - Der Retzhof im 20. Jahrhundert. Eine Spurensuche im institutionellen Gedächtnis (2. Auflage).
Die Retzhof-Schrift ist gegen einen Druckkostenbeitrag von 5 Euro am Retzhof erhältlich.

 

Zum Autor: Dr. Joachim Gruber ist pädagogischer Leiter des Bildungshauses Retzhof und Lektor an der Karl-Franzens-Universität Graz zum Fachbereich Management in Bildungsorganisationen.