Eine Buchempfehlung: Herrschaftssicherung im „Grenzland“

Dr. Joachim Gruber möchte in dieser Ausgabe der Gemeindezeitung inhaltlich an seinen Beitrag vom Oktober dieses Jahres zur institutionellen Bildungsgeschichte des Bildungshauses Retzhof anknüpfen.

Die damalige Autorin der dort vorgestellten Retzhof-Schrift, Lisbeth Matzer, hat nämlich unlängst am Retzhof ihre neueste Publikation mit dem Titel „Herrschaftssicherung im 'Grenzland'´. Nationalsozialistische Jugendmobilisierung im besetzten Slowenien“ vorgestellt. Nun könnte man meinen, dies sei vor allem ein wissenschaftlich fundiertes Werk für Historikerinnen und Historiker. Als „gelernter“ Erziehungs- und Bildungswissenschaftler möchte ich bei der Vorstellung dieses Buches mit der Feststellung beginnen, dass es genauso gut als ein exemplarisches Lehrbuch gelesen werden kann, wie und mit welchen Mitteln totalitäre Regimes oder ebensolche Organisationen versuchen, vor allem Kinder und Jugendliche für ihre Zwecke zu indoktrinieren, zu mobilisieren und letztendlich zu missbrauchen. Dies passiert nicht zufällig, sondern folgt ausgeklügelten pädagogisch-psychologischen Konzepten, die von erfahrenen Expertinnen und Experten der frühen Kindererziehung, des Schulwesens und der Volksbildung der damaligen und heutigen Zeit erdacht wurden und werden. In die passende Organisationsform gegossen und dort angewandt, werden sie zum Kerker, aus dem es für die meisten der darin Unterworfenen kaum ein Entrinnen mehr gibt. Als Fluchtmöglichkeit aus dem institutionellen Zwangskorsett bot und bietet sich für viele Kinder und Jugendliche als scheinbar einziger Ausweg, sich in eine allmähliche Aneignung der jeweiligen Ideologie zu flüchten, die ursprünglich nicht die ihre war. In der Folge solidarisiert und identifiziert man sich mit den Ansichten seiner Unterdrücker und folgt deren totalitären Grundsätzen und Regeln. An diesem Punkt angelangt, ist das erzieherische Werk – im schlechten Sinne – vollbracht. Nur wenige hatten in der Zeit nationalsozialistischer Gewaltherrschaft den Mut und die Kraft, dem dauerhaft zu widerstehen. Lisbeth Matzer widmet sich in ihrer Forschungsarbeit im Besonderen der Herrschaftssicherung durch Jugendmobilisierung in Grenzräumen (borderlands). Geografisch oft fern vom staatlichen Zentrum gelegen, spielen dort soziale, kulturelle, ethnische und nationale Zugehörigkeiten und Zuschreibungen eine ganz besonders wichtige Rolle. Dies zeigt Matzer in der Einleitung ihres Buches mit einem heute fast tragisch-komisch anmutenden Zitat eines jugendlichen Verfassers aus dem durch das NS-Regime besetzten österreichisch-slowenischen Grenzraumes. Er sah sich wohl nicht ganz freiwillig im Zuge seines Landdiensteinsatzes zu diesem Bekenntnis veranlasst: „Meine heimat ist jetztca schene grosse deutschland, Unser führer ist Adolf Hitler (…)“. Als Kontakt- und Übergangszonen wurden und werden Grenzräume bis heute vorzugsweise als zentrale Orte des Machtkampfes zwischen verschiedenen Interessensgruppen ausgewählt. Die dort oft mutwillig angefachten und ausgetragenen Konflikte wirken zurück auf die politischen Zentren im Binnenland und werden zumeist als Untermauerung vermeintlicher Ansprüche im „Grenzland“ oder sonst wo gebraucht. Auch heutzutage wird uns dieser nur scheinbar alte Mechanismus in den aktuellen Nachrichten tagtäglich vor Augen geführt. Interessant auch zu erfahren, dass schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bezeichnung „Grenzland“ speziell in deutschnationaler sowie ab den späten 1920er und 1930er Jahren auch in der nationalsozialistischen Propaganda sehr häufig verwendet wurde. Wer sich also umfassend und fundiert über die Geschichte der „Schutzarbeit“ im europäischen Südosten durch den deutschen Schulverein, den Schulverein Südmark, die Hitler-Jugend im „Grenzland“, die Sprach- und Siedlungspolitiken als Instrumente der (Re-)Germanisierung, über Deutschkurse und Deutschpflicht für Jugendliche, Heimatabende und andere Dienste, über die Rolle der Lehrpersonen und LehrerInnenbildungsanstalten im nationalsozialistischen Besatzungskontext u.v.m. informieren möchte, dem sei das hier nur in aller Kürze vorgestellte Buch sehr ans Herz gelegt. Es berichtet uns nicht von Gegenden und Dingen aus weiter Ferne sondern davon, was im slowenisch-österreichischen Grenzgebiet in jener Zeit stattgefunden hat. Es ist wissenschaftlich fundiert und eine wahre Fundgrube für anerkannte weiterführende Literatur. Es endet letztendlich ein wenig tröstlich: Mit zunehmender Dauer der Repression und Indoktrination formierte sich auch verstärkt der Widerstand dagegen. Strategien des Sich-Entziehens und abweichendes Verhalten von der geforderten Norm wurden immer häufiger. Letztendlich erzählt und belehrt uns die Geschichte auch hier darüber, dass Manipulation, Indoktrination und Zwang mit oft härtesten Sanktionen dauerhaft nicht ausreichen, um den Geist und die Herzen der Menschen wirklich und nachhaltig für sich zu gewinnen. Dies beweist tagtäglich auch die jüngere Geschichte und Gegenwart, deren Zeitzeugen wir selbst waren bzw. sind.

Zum Autor: Dr. Joachim Gruber ist pädagogischer Leiter des Bildungshauses Retzhof und Lektor an der Karl-Franzens-Universität Graz zum Fachbereich Management in Bildungsorganisationen.

 


Autorin Dr.in Lisbeth Matzer ist Akademische Rätin an der LMU München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Geschichte(n) von Grenzräumen, von Kindheit und Jugend sowie von Autoritarismus, Faschismus und/oder Demokratisierung.